© Marcus Koch

Mit dem Kopf im Westen

Fri, 16 Aug 2019 13:30:07 +0000 von Edda Hagebölling

© Dr. Andreas Ströbl
Künstliche Blüte von einer Totenkrone aus Buntmetalldrähten, Glasperlen und Textilresten
Von Dr. Andreas Ströbl – Forschungsstelle Gruft, Lübeck

Werden Bauarbeiten unmittelbar an einer Kirche durchgeführt, muss damit gerechnet werden, dass menschliche Gebeine zutage treten. So war es auch an der Kirche in Heemsen, als im Juni 2019 eine neue Schmutz- und Regenwasserleitung verlegt und in einem schmalen Baggerstreifen Gräber gefunden wurden. Schließlich war es den Menschen bis zur Moderne wichtig, möglichst nah an den Reliquien oder, in protestantischer Zeit, am Ort der Verkündigung bestattet zu sein. Zum Jüngsten Gericht sollen die Toten aus ihren Gräbern steigen und dafür wollte man sich der Unterstützung durch die Heiligen gewiss sein bzw. suchte man die Nähe zur Kirche und zu Gottes Wort. Christliche Gräber sind daher nach Osten hin ausgerichtet und auch die Heemser Beigesetzten lagen mit dem Kopf im Westen, sodass sie bei der Auferstehung die aufgehende Sonne und damit Christus erblicken sollten.
Gräber mit oft sehr gut erhaltenen Skeletten, Särgen und Beigaben erfordern einen besonders sensiblen Umgang, der durch die Bestattungsarchäologie gewährleistet wird. Wenn die Gräber schon nicht in ihrer vollständigen Form erhalten werden können, müssen zumindest die Bestattungen dokumentiert und die Knochen für eine Wiederbestattung fachgerecht entnommen werden.
Die neogotische Backsteinkirche in Heemsen besteht in ihrer heutigen Form seit 1864, war aber ursprünglich ein romanischer Bau aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Die Bautätigkeiten des 19. Jahrhunderts hatten bereits die älteren Gräber erheblich gestört; der Bereich an der Südseite war aber wie der ganze Kirchhof weiterhin für Erdbestattungen genutzt worden. 
Insgesamt konnten die Standorte von 14 Bestattungen dokumentiert werden. Allerdings war der Großteil der Gräber nicht eindeutig zu datieren, da vor allem lediglich die Knochen und von den Holzsärgen meist nur noch Bodenverfärbungen zu sehen waren. Bei zwei weiblichen Schädeln – einer stammte in jedem Falle von einer jungen Frau – waren jedoch Reste von Totenkronen erhalten (Abb. 1). Dies sind filigrane Gebilde aus zumeist Buntmetalldrähten, Pailletten sowie Stoff- oder Papierblüten, die unverheiratet Verstorbenen beiderlei Geschlechts und konfessionsunabhängig als Ersatz für die im Leben nicht vollzogene Hochzeit oder auch für die „himmlische Hochzeit“ mitgegeben wurden. Totenkronen sind vor allem für das 17. und 18. Jahrhundert belegt, weswegen diese beiden Bestattungen in diese Zeit datiert werden können.
Bei einem Grab waren die hölzernen Bauteile schlecht, aber die Griffe und die Sargschrauben sehr gut erhalten. Die industrielle Fertigung der Bauteile, bei denen auch Weißmetall zum Einsatz kam, läßt auf das späte 19. oder frühe 20. Jahrhundert schließen. Die spezielle Form der Zierschrauben ist von anderen Friedhöfen und aus Grüften dieser Zeitstellung bekannt, sie wurden in Massenproduktion hergestellt und überregional verhandelt.
Die Knochen stammen fast alle von Erwachsenen, in einigen Fällen waren Greisenkiefer zu beobachten: sämtliche Zähne waren ausgefallen und die Alveolen hatten sich zu Lebzeiten wieder verschlossen. Der Sarg eines Kindergrabes war noch als dunkler Schatten im hellen Sandboden sichtbar (Abb. 2).
Auffällig waren zwei umfangreiche Knochenlager, also regellose Ansammlungen von Gebeinen mehrerer Individuen. Man war auch bei früheren Bauarbeiten auf Gräber gestoßen und hatte dann die Knochen in Gruben wieder beigesetzt. Da die Bauarbeiten früher nicht archäologisch begleitet wurden, fehlt hier auch jede Dokumentation und somit eine Datierung. Wahrscheinlich deuten diese Knochenlager auf Bautätigkeiten im 19. oder 20. Jahrhundert hin.
Nach Abschluss der Baggerarbeiten wurden alle Knochen in das Kopfloch der Ausschachtung nahe dem Turm gelegt. Der Pragmatismus steht bei Bauarbeiten meist einer liturgisch korrekten Wiederbestattung gegenüber. Hier wurde in jedem Falle ein Weg gewählt, der eine angemessene Verwahrung aller gefundenen menschlichen Überreste nahe der Kirche gewährleistet.
Quelle: Dr. Andreas Ströbl
Die Wände eines Kindersarges sind als dunkle Verfärbung im Boden sichtbar
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